Vom Sinn und Nutzen der Ahnenforschung

Mehr zu erfahren, über die Lebensumstände vorangegangener Generationen, hilft dabei, die Gegenwart besser zu verstehen und vor allem, die kleinen „Unglücke“ des Jetzt zu relativieren.

 

Sitzt man im Stadtarchiv und sucht nach Lebensdaten von Ahnen und stößt dabei beispielsweise auf die Sterbeurkunden aus dem Jahr 1915 oder 1916, so kommt man unweigerlich mit den zahllosen Opfern des 1. Weltkrieges in Kontakt. Es müssen nicht unbedingt die Angehörigen der eigenen Familie sein, deren sinnloser Tod hier erschaudern lässt. Die Häufung der Einträge in den Kriegsjahren ist augenfällig und die verzeichneten Jahrgänge entsetzen.

 

Ebenso schlimm ist die unglaublich große Kindersterblichkeit in der Vergangenheit. Sie findet mancmal ihren Ausdruck darin,  so dass etliche dieser Kinder nicht einmal einen Namen bekamen.

 

Es war nicht die gute alte Zeit! Nein,alles andere als das!

 

Ist von dem Jahr ohne Sommer die Rede, dann ist das Jahr 1816 gemeint. Es war das Jahr, in dem der Ausbruch eines Vulkans in Indonesien eine globale Klimakatastrophe auslöste und Ernten auch hier verdarben. Die Hungersnot war riesig und veranlasste viele, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Riesige Überschwemmungen am Niederrhein im 19. Jahrhundert, die vielen die Existenzgrundlage entzogen, hatten die gleiche Folge. Das gewaltige Rheinhochwasser von 1784 hat offenbar einige meiner eigenen Vorfahren veranlasst, sich von Baerl und Budberg weiter nach Westen zu orientieren, allerdings nicht gleich über den großen Teich, sondern in den Bereich von Neukirchen und Vluyn.

 

Pest, Cholera, Thyphus, Armut, Hunger und Krieg waren vor nicht allzu langer Zeit die Geisseln unserer Vorfahren und lassen das große Lamento der Gegenwart, beispielsweise darüber, dass die Mittel für einen Urlaub fehlen, lächerlich erscheinen.

 

Individuelle Ereignisse im Leben einzelner Ahnen tauchen auf und verhelfen dazu, Bilder im Kopf entstehen zu lassen, die jedes fiktionale Kino in den Schatten stellen. Es sind dabei aber nicht nur die Schattenseiten des Daseins, über die man etwas zu erfahren in der Lage ist. Auch Positive Begebenheiten lassen sich ausfindig machen.

 

Letztlich stellt Ahnenforschung eine konkrete Herausforderung an den Geist dar. Beschränkt man sich nicht nur auf das relativ stupide Abtippen von bereits verfügbaren Daten, sondern versucht, Zusammenhänge zu erfassen, die zuvor verborgen waren, dann ist echte Detektivarbeit angesagt.

 

Ahnenforschung bedeutet, oder kann zumindest bedeuten, die eigenen grauen Zellen zu reaktivieren.

 

Die Art der Schlussfolgerungen, die man benötigt, um zu stimmigen Ergebnissen zu gelangen, ähnelt oft auf erstaunliche Weise denen, die auch für Sudoku-Rätsel benötigt werden. Allerdings handiert man nicht mit den abstrakten Ziffern, sondern mit Fakten, die einen besseren Bezug zum Rätselinhalt bieten.

 

Aus der eigenen Arbeit führe ich hier das Beispiel einer Frau an, die in unterschiedlichen Quellen mit unterschiedlichen Namen, mit unterschiedlichen Geburts- und unterschiedlichen Sterbedaten geführt wird. Es bestand folglich kaum ein Anlass anzunehmen, dass diese Frau(-en) immer ein und dieselbe sei (-en). Doch in einer dieser Quellen war angeführt, dass sie neben dem seltsamen Namen "Einwohner", den Beinamen „ genannt Schröers“ trug. Diese Namensergänzung ergab zwar einen Treffer im Abgleich mit einem bereits vorhandenen Datenbestand. Weitere Überprüfungen ergaben anschließend, dass die Person, die sich bereits im eigenen Datenblatt befand, mit dem gleichen Ehemann verheiratet war, wie die eingangs angeführte. Die Lebensdaten des Ehemannes standen zwar nicht zur Verfügung, jedoch waren die Namen der Eltern des Ehemannes in beiden Fundstellen identisch. Der eigene Datenbestand wies außerdem bereits Namen von Kindern aus. Doch das Kind der Frau "Einwohner", die auch „Schröers“ genannt wurde, befand sich nicht in den bereits bekannten Quellen. Dafür fehlten bei den Daten der Frau, die „Schröers“ genannt wurde, die Kinder, die bereits ins Ahnenblatt übernommen waren.


 

Was hatte das also zu bedeuten? Abweichende Angaben zu den Kindern, abweichendes Geburtsdatum, abweichendes Sterbedatum. Waren es unterschiedliche Personen? War der Ehemann zweimal verheiratet, einmal mit einer geborenen „Schröers“ und ein weiteres Mal mit einer weiteren Frau, die in Memoriam an die erste Gattin, ebenfalls „Schröers“ genannt wurde? Offenbar wohl nicht. Das Kind, das der Frau zuzuordnen ist, die „Schröers“ genannt wurde, hatte zur Angabe des Vaters, den gleichen Namen, wie bei den Kinder, die schon bekannt und registriert waren. Doch dass alleine reicht natürlich nicht. Selbstverständlich hätte der Ehemann auch mit einer zweiten Frau ein Kind (außerehelich) in die Welt setzen können. Doch die angegebenen (gering abweichenden) Heiratsdaten, zusammen mit dem Umstand, dass dieses weitere, bislang unbekannte Kind, später als das erste bereits bekannte und früher als letzte schon bekannte geboren wurde, macht es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit klar, dass -trotz aller Abweichungen- eine Personengleichheit vorliegt.

 

                       Alles klar?

 

Keine Sorge, zu solchen Überlegungen gelangt man mit ein wenig Übung zwangsläufig, wenn man sich mit dem Thema Ahnenforschung befasst.

 

Ein jeder, der sich mit Ahnenforschung befasst, bekommt die Chance, ähnlich wie „Columbo“ oder „Sherlock Holmes“, kriminalistische Arbeit zu leisten.

 

 

Das wichtigste?

Es existiert noch ein weiterer ganz wesentlicher Aspekt der Ahnenforschung. Dieser betrifft die existenziellste aller Fragen:

 

Was bleibt?

 

Diese Frage beschäftigt alle Menschen in allen Zeiten. In letzter Konsequenz hat sie vermutlich dazu geführt, dass es religiöse Vorstellungen gibt. Doch auch abseits davon ist der Wunsch danach, nicht vergessen zu werden, eines der markantesten Merkmale aller menschlichen Individuen. Heute, in Zeiten des Internets, ist es den Zeitgenossen ein Leichtes, Spuren zu hinterlassen, gleichgültig, ob gewollt, oder ungewollt. Das meiste von dem, was sich in der Zukunft über Menschen der Gegenwart herausfinden lässt, ist wahrscheinlich belanglos. Ob sich jemand zu irgend einem Zeitpunkt im Fitnesstudio XY oder im Hardrock-Cafe in Paris aufgehalten hat, erscheint mir zumindest außerordentlich unwichtig. Gleichwohl lässt sich, - oder zumindest ließe sich- aus der Unzahl von gesammelten Daten, ein sehr konkretes Bild von dem Menschen formen. Mithilfe von Algorithmen und mit empirischen Daten ist -aus heutiger Sicht- die Rekonstruktion des untersuchten Charakters durchaus vorstellbar.

 

Verborgen bleibt jedoch das Schicksal desjenigen. Manches davon lässt sich durch Fakten zwar auch ermitteln, wenn beispielsweise aus dem Berg der Daten, Schicksalsschläge oder emotionale Höhepunkte (z. B. die Geburt der Kinder)  herangezogen werden. Wie der Einzelne jedoch darüber gedacht, was er empfunden hat, das bleibt zumeist im Dunkeln. Nur diejenigen, die sich der Mühe unterziehen, mehr als ein "Smiley" bei Facebook zu setzen, erlauben es, das Bild konkreter werden zu lassen. Es ist daher richtig, sich zu Wort zu melden und die Gedanken in die Welt zu tragen. Dieses gilt nicht erst seit heute, sondern galt schon immer. Das alles hat nicht nur seinen Sinn darin, die Welt mit weiterem (vielleicht sogar unsinnigem oder gar gefährlichem) Gedankengut zu bereichern, sondern auch - und vielleicht ganz besonders darin- der Welt eine Chance zu geben, diesen speziellen und einzigartigen Menschen kennenzulernen. Wie richtig und wichtig diese Gedanken sind, spielt dabei nicht die Hauptrolle, sondern das Angebot, das man damit ausspricht, sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen.

 

Ahnenforschung ist in jeder Form Geschichtsforschung. Sie kann in dieser spezialisierten Art betrieben werden, bei der nur die Lebensdaten gesammelt werden, aber ebenso, wie in der klassischen Form, bei der es darauf ankommt, die Zusammenhänge zu begreifen, die zu dem geführt haben, was heute ist. Seit kurzem etabliert sich ein neuer Wissenschaftszweig, der sich Epi-Genetik nennt. Gemeint ist damit, dass sich nicht nur körperliche Merkmale über Generationen vererben, sondern es scheint, als ob unsere Gene auch ein Gedächtnis für die Lebensumstände der Vorfahren besitzen. Vielleicht wird dem einen oder anderen das eigene Verhalten, darüber etwas klarer. Wir sind bei weitem nicht nur die Individuen, die nur durch das eigene Leben geformt werden, sondern besitzen ein tiefes, im unserer Erbmasse verankertes Wissen, das uns ebenso bestimmt.

 

Ob dieses Interesse daran bei anderen ebenso ausgeprägt ist, wie bei mir, weiß ich nicht. Doch glaube ich, dass ein Interesse an Geschichte eine gute Voraussetzung für die Ahnenforschung ist und an dieser Stelle wirken die klassische Geschichtsforschung und die Ahnenforschung hervorragend zusammen:

 

So, wie wir Geschichte aus dem Schulunterricht kennen, deckt sie nur einen bescheidenen Teil dessen ab, was wichtig ist. Geschichtsunterricht widmet sich der Geschichte der Herrschenden. Ob nun Cäsar, Ramses oder Stalin, zu diesen Menschen haben wir keinen unmittelbaren Bezug, auch wenn sie die Richtung der Geschichte gelenkt haben und deren Einfluss auf das "Jetzt" nicht  überschätzt werden kann. Die Wirkungen reichen bis in die eigene Existenz. Kaum jemand macht sich klar, dass er (oder sie) so nicht - oder vielleicht gar nicht- existieren würde, wenn es Hitler oder Napoleon nicht gegeben hätte. Dieser Satz ist bestimmt befremdlich und veranlasst sicher viele, zu glauben, er beträfe -wenn überhaupt- nur wenige. Doch das Gegenteil ist richtig und auch beispielsweise die türkischen Mitbürger sind mit dieser Aussage angesprochen. Wäre die Geschichte nicht so verlaufen, wie sie es eben tat, so wäre Deutschland, wie auch andere Staaten andere. Andere Menschen würden die Geschicke lenken. Andere Menschen hätten für den Genpool zur Verfügung gestanden, andere eheliche Verbindungen hätten sich ergeben, andere Menschen hätten zu anderen politischen Verhältnissen und zu anderen Machtverteilungen in Europa und der Welt geführt. Alles hängt mit allem zusammen und das betrifft eben nicht nur die Mächtigen, sondern ein jegliches Individuum. Das mag etwas maßlos klingen, doch es trifft zu und findet seinen Ausdruck in einem weiteren neuen Wissenschaftszweig: der Chaosforschung.

 

Grund genug, sich nicht nur derer anzunehmen, die in der Historie besonders auffällig geworden sind, sondern den unscheinbaren, einfachen und unauffälligen Menschen, die die gleiche Aufmerksamkeit verdient haben, wie alle anderen auch. Die Praxis sieht heute anders aus:  Ich halte es für ausgesprochen ärgerlich, dass es ausgerechnet zumeist die großen Schlächter, die "durchgeknallten" Hasardeure in der Historie sind, die auch heute noch "Die Großem" genannt werden. Vielleicht mag der eine oder andere auch eine positive Seite besessen haben, aber ein Bismarck oder Napoleon haben mit ethischen Prinzipien so viel zu tun, wie die Banane mit Algebra. Die Verehrung eines Friedrich "des Großen ist mir ebenso schleierhaft, wie die des Schwachkopfes Wilhelm II.

 

Nein, so sollte Geschichtsforschung nicht sein. Vielmehr sollte sie dazu beitragen, so weit wie möglich, alle Menschen zu würdigen und dieses betrachte ich als eine wesentliche Aufgabe der Ahnenforschung.

 

Wenn wir uns nun der Ahnenforschung zuwenden, dann ist das vielfach der Versuch, eben nicht nur festzustellen, wie die Namen der Vorfahren lauteten, sondern auch, diese Menschen, die im Ahnenblatt angeführt sind, "so konkret wie möglich" werden zu lassen. Sie dem Vergessen zu entreißen und "die Daten zu beseelen" erscheint mir außerordentlich wichtig. Dieses gelingt leider viel zu oft nicht, aber in vielen Glücksfällen eben doch. Geht man über das Ermitteln der reinen Daten hinaus, hat man die Chance, mitzuerleben, ja mitzufühlen, was die Betreffenden bewegt hat. Ein Beispiel in meinem Fall war die Mitwirkung einiger meiner Verwandten bei dem Versuch, im Jahre 1905 Umweltschutz zu betreiben. Ein solches Ermittlungsergebnis besitzt einen beachtlichen Informationsgehalt und stellt somit die faktischen Lebensumstände in den Mittelpunkt. Doch auch das Emotionale bleibt nicht unberücksichtigt und das auch dann, wenn sich nichts weiter herausbekommen lässt, als der Name und das Sterbedatum. Was meine Person angeht, so ist das Eintragen von Sterbedaten von Kindern in das Ahnenblatt immer und immer wieder etwas, das mich innehalten lässt.